Hansjörg Schneider, junge Schweizer Literatur feiert unerwartete Erfolge. Erstaunt Sie das?Hansjörg Schneider kommt die Holztreppe herunter. Bauernhemd, derbe Schuhe, wacher Blick – der stattliche 72-Jährige könnte ein Wanderurlauber sein, hier im Hotel Engel in Todtnauberg im Schwarzwald. Vor vierzig Jahren hat der Schweizer Erfolgsautor mit seinem Theaterstück «Sennentuntschi» einen Skandal ausgelöst. Einen Tag vor unserem Interview fuhr er nach Basel, um sich Michael Steiners gleichnamigen Film anzusehen, der nächste Woche in die Kinos kommt.
Nein. Das ist doch grossartig.
Haben Sie die preisgekrönten Bücher gelesen?
Das von Elmiger habe ich angefangen. Das von Nadj Abonji noch nicht.
Wie hat Ihnen Elmigers Prosa gefallen?
Ich bin kein Literaturkritiker.
Fühlen Sie sich als Wegbereiter des Schweizer Literaturerfolgs?
Warum sollte ich? Elmiger und Abonji sind junge Frauen, die ihre ganz eigene Literatur entwickeln. Das habe ich auch gemacht.
Schrieben Sie Ihr «Sennentuntschi» 1969 nicht im Bewusstsein, ein Nachfolger Frischs und Dürrenmatts zu sein?
Nein. Ich wollte nichts anderes, als diese Geschichte auf die Bühne stellen. Obschon ich keinen Augenblick damit rechnete, dass sie aufgeführt werden würde.
Warum?
Weil es eine so verrückte Geschichte ist.
Wie fanden Sie Michael Steiners Film «Sennentuntschi»?
Insgesamt sackstark. Er ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen.
Was fanden Sie stark?
Die Bilder, vor allem die auf der Alp. Andrea Zogg als Senn ist Weltklasse. Die Geschichte kommt gut durch – dass da die Sennen eine Frau machen, diese ausnüt
zen und dann selber drankommen. Gefallen hat mir, dass sie nicht in der hehren Bergwelt spielt. Das ist nicht Eiger, Mönch und Jungfrau, das ist irgendein Seitental, mit Blechdächern, wo keine Sonne hinkommt. Ein paar Dinge fand ich aber schlecht.
Was genau?
Der Schluss ist verzettelt. Konfus. Dort zerfranst der Film richtig. Und die Musik war mir zu extrem. Ein paarmal habe ich die Ohren zugehalten – und manchmal auch die Augen.
Und das Sennentuntschi als Figur hat Ihnen gefallen?
Manchmal schon. Manchmal scheint die Darstellerin aber auch nicht zu wissen, was sie spielen soll. Ist sie eine Puppe? Oder ist sie real, ein Mensch?
Ja, was ist das Sennentuntschi?
Tja, was? In der Sage ist es ein Fantasiegebilde, das brutal in die Realität eingreift. Diese Kraft kommt im Film voll zur Geltung, finster wie eine griechische Tragödie.
Die Sage war nicht breit bekannt, bis Sie 1972 Ihr Stück «Sennentuntschi» schrieben. Wie sind Sie auf die Geschichte gestossen?
Ich habe mit einem Freund über Frauen geredet, und der war der Meinung, dass vor Frauen nur die Flucht helfe. Als Beweis für seine Theorie erzählte er mir diese Sage. Und ich wusste aufs Mal, drei Männer und eine Puppe, die lebendig wird, das ist Theaterstoff.
Vor Frauen hilft nur Flucht?
Aber in Ihrem Stück sind doch Männer die Bösewichte.
Ja. Auch im Film ist es nicht die Frau, die böse ist. Aber es ist jetzt vierzig Jahre her, seit ich das Stück geschrieben habe. Ich kann es nicht mehr auf der Bühne sehen, ich laufe raus.
Ah ja? Warum?
Ich mag die brutale Primitivität dieses Stückes nicht mehr, diese Lieblosigkeit.
Ihr eigenes Stück ist Ihnen selber zu brutal?
Nein, das will ich nicht sagen. Aber ich habe mich in diesen vierzig Jahren verändert.
Sind Sie empfindsamer geworden?
Das ist möglich. Auf jeden Fall anders.
Das Stück ist 1972 in Zürich uraufgeführt worden, aber den grossen Skandal gabs erst 1981 nach der Ausstrahlung der Fernsehversion mit Walo Lüönd. Was war da los?
Das Telefon hat pausenlos geläutet! Man hat mich beschimpft, ich habe auch Pakete bekommen – mit Schweinereien darin. Das war mir zu viel, ich bin ins Tessin abgehauen. An der Publikumsdiskussion habe ich nicht teilgenommen, weil ich dachte, danach kennt mich die ganze Schweiz.
Was war das Problem?
Man empfand es als unanständig. Und die Sprache störte, dass die Sennen «vögle» sagten.
Finden Sie in Steiners Film Teile Ihres Stückes wieder?
Ja, ich habe vieles wiedererkannt. Michael Steiner sagt ja, er habe mein Stück nicht gesehen. Gelesen hat er es sicher, sonst wäre ja seine Vorbereitung fahrlässig gewesen. Er sagt jetzt, er habe die Sage verfilmt, und die ist frei, juristisch gesehen. Ich muss mal mit dem Verlag sprechen.
Könnte der Verlag Ihres Stückes Rechte einklagen?
Das weiss ich nicht.
Warum haben Sie eigentlich mit dem Schreiben solcher Theaterstücke aufgehört?
Ich habe zwanzig Jahre für die Stadttheater geschrieben. Dann war ich nicht mehr gefragt. Da begann ich für Laien zu schreiben. Landschaftstheater, mit Louis Naef und Liliana Heimberg. Das war grossartig.
Ein ziemliches Kontrastprogramm.
Nicht einmal. Ich lebe zwar in der Stadt, betrachte mich aber nicht als Städter. Ich bin auf dem Land aufgewachsen und komme aus der Bauernwelt. Und Laien sind, wenn sie in ihrem Dialekt spielen, oft authentischer als Profis.
Die Kränkung durch das Stadttheater sitzt aber noch tief?
Warum vermuten Sie das?
Weil man Ihren neuen Krimi «Hunkeler und die Augen des Ödipus» als eine Abrechnung mit der Theaterwelt lesen kann.
Ich war ja in Basel am Theater, Regieassistent und Statist. Ich habe Stücke geschrieben. Die ersten fünf hat der Chefdramaturg Hermann Beil alle abgelehnt. Ich habe immer noch eine Wut auf den Herrn. Aber wenn ich ihn sehe, sage ich: Salut Hermann, wie gehts?
Im Roman wird über die Schwätzer am Theater gelästert, und vorgeschlagen, man solle doch eher gute Köche staatlich subventionieren, die täten mehr fürs Allgemeinwohl. Ist das Ihre Meinung?
Nein! Das Theater ist für mich immer noch etwas vom Besten, das die Menschheit erfunden hat. Ich gehe einfach nicht mehr hin.
Wieso?
Ich bin zu alt – es interessiert mich nicht mehr so brennend. Aber ich hatte eine ganz tolle Zeit am Theater. Schon in meiner Kindheit. Wir hatten ein grossartiges Kasperlitheater in Zofingen. Das hat mich mitgerissen, und die ganze Kinderschar, ein Geschrei war das. Herrlich.
Das Wort «UnterhosenTheater» kommt im neuen Hunkeler auch vor. Spielen Sie damit auf den Theaterskandal um Marthaler in Zürich an?
Vielleicht, aber Sie müssen schon unterscheiden, zwischen mir und dem, was in den Hunkeler-Romanen gesagt wird.
Sie sagen doch selber: Hunkeler bin ich.
Ja, aber es ist ja nicht Hunkeler, der vom Unterhosen-Theater spricht. Das sind die andern.
Schreiben Sie an einem neuen Hunkeler?
Nein, ich denke noch gar nicht daran. Ich habe ein anderes Buch fertig gemacht, ein Traumtagebuch.
Einer Ihrer wichtigsten Romane heisst «Wasserzeichen».
Träumen Sie manchmal auch von Wasser?
Oft. Das ist logisch, das Wasser ist ja, laut Freud, dem grössten Traumdeuter, ein Symbol für das Unbewusste.
Hätten Sie auch gerne Kiemen wie einer Ihrer Romanhelden?
Klar. Wenn ich in Basel bin, gehe ich immer in den Rhein. Wenn man den Kopf unter Wasser hält, hört man die Kiesel. Das ist schön, und dann ist es naheliegend zu denken, wie das wäre, wenn man unten bleiben könnte.
Ihr Kiemenmensch hasst Menschen, die Wasser scheuen, er nennt sie «Dürrstelzer». Wofür stehen diese?
Dieser Moses Binswanger hat eine Sauwut auf die, die ihn nicht verstehen. Es hat insofern mit mir zu tun, als dass ich mich total unverstanden gefühlt hatte in meiner Jugend bis in die Kantonsschule. Die Lehrer – in Aarau nannten wir sie «Herr Professor» – hatten keine Ahnung, was mich interessierte und was ich dachte.
Auch Hunkeler hat eine Wut auf «die da oben». Gibt es auch für Hansjörg Schneider Feinde?
Was Hunkeler betrifft, kann ich genauer Antwort geben als bei mir. In den letzten 60 Jahren hat sich vieles verändert. Als ich jung war, hatten zum Beispiel Frauen keine Macht, einfach nichts. Und wir, die wir in die Kanti gingen, waren Auserwählte, uns hat man gesagt, wir seien die Elite. Aber wirklich geredet mit uns hat niemand von den Herren. Dann kam 1968, der Aufstand der Jugend. Damit wurden die Alten weggeschoben.
Und jetzt: Eine Frauenmehrheit im Bundesrat. Was sagen Sie dazu?
Ich bin erstaunt, dass das kaum zur Kenntnis genommen wird. Vor dreissig Jahren hätte man sich nicht vorstellen können, dass eine Frau im Bundesrat sitzt. Und jetzt sind vier dort, und es fällt nicht einmal auf. Das finde ich gut.
Hat sich die Welt zum Besseren verändert?
In vielem schon, ja. Heute wird ja auf die Jungen in einem Ausmass eingegangen, das ich schon wieder übertrieben finde. Kaum macht ein Kind einen Farbstiftstrich, sagen schon alle: toll.
Haben Sie Enkel?
Einen, ja. Er ist anderthalb Jahre alt.
«Deine Städte sind tot, deine Menschen Sklaven», haben Sie einmal über die Schweiz gedichtet. Hat sich Ihr Verhältnis zum Heimatland inzwischen auch verändert?
Das war eines meiner ersten Gedichte! Ich finde es heute noch gut: «. . . deine Wörter sind Kies, geglättet vom vielen Gebrauch. Mein Land, du hast mich zum Schweizer gemacht, verflucht seist du . . .» Aber das würde ich heute nicht mehr schreiben. Ich sehe heute die Vorteile der Schweiz, nicht die Nachteile.
Welche Vorteile genau?
Etwa die direkte Demokratie. Die finde ich grossartig. Was jetzt in Stuttgart los ist mit den Protesten gegen den Bahnhof, das hätte in der Schweiz gar nie passieren können. In der Schweiz hätte es eine Volksabstimmung gegeben . . .
. . . und damit wäre das Projekt abgeschmettert worden.
Vielleicht auch nicht. Die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) ist doch auch so ein verrücktes Bauprojekt, und die ist angenommen worden. Die wird gebaut, und die Leute sitzen nicht bei Erstfeld auf den Schienen. In der Schweiz akzeptiert man es, wenn man zur Minderheit gehört.
Als Aargauer leben Sie in der Grenzstadt Basel.
Ja. Es ist ganz schön, wenn man nicht nur von lauter Schweiz umgeben ist.
Viel Zeit verbringen Sie aber auch hier im Schwarzwald, in Todtnauberg, mit dem luftigen Blick …
… wenn es nicht gerade Nebel hat. Aber ich finde es hier sehr angenehm.
Wenn jemand dem jungen Hansjörg Schneider gesagt hätte, du wirst der erfolgreichste Krimischriftsteller der Schweiz, hätte er das geglaubt?
Wohl kaum. Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal Krimis schreiben würde, nie. Ich habe mir auch nie überlegt, was ich mit 70 machen würde. Ich dachte eher, ich würde nie 70 werden. Ich dachte, dass ich viel früher sterbe.
Warum?
Wie Charlie Parker, der starb mit 35. Wir waren damals grosse Jazzfans.
Hunkeler hat seine Freundin Hedwig. Sie mussten von Ihrer Frau Abschied nehmen. Ist das Alleinsein ein Thema für Sie?
Natürlich. Es gibt Paare, die zusammenbleiben bis ins hohe Alter. Und es gibt andere, da stirbt jemand. Das wird dann schwierig.
Schreibenderweise kehren Sie in das Haus zurück, das Sie mit Ihrer Frau bewohnt haben.
Ja. Hunkelers Haus im Elsass ist eins zu eins unser Haus. Ich lebe viel in Erinnerungen. Ich schreibe mehr als früher.
Dass es mit Hunkeler weitergeht, ist also sicher?
Ich vermute schon, dass ich zumindest noch einen schreiben werde. Aber wenn ich einen Hunkeler nach dem andern schreiben würde, wäre das eine Fabrik. Das wär auch für mich langweilig.
Der neue war wieder auf Platz 1 der Bestsellerliste, verfolgen Sie das?
Natürlich. Wir Autoren sind eitel.
Lesen Sie Krimireihen anderer Schriftsteller?
Ich lese wenig Krimis, weil ich die meisten stinklangweilig finde. Von Raymond Chandler habe ich längst alle gelesen, von Friedrich Glauser ebenfalls.
Und Zeitgenossen?
Den Wallander habe ich verfolgt, also die Bücher von Henning Mankell. Die fand ich gut, aber zu lang. Wenn er dann wieder von seinem Vater angefangen hat und von seiner Tochter, habe ich immer vorgeblättert.
Bei Hunkeler heisst es, wenn jemand behauptet, die Wahrheit zu besitzen, dann lauf davon.
Genau, sonst stösst er dir als Nächstes ein Messer in den Bauch.
Haben Sie uns die Wahrheit gesagt?
Ich pflege eigentlich schon die Wahrheit zu sagen, oder das, was ich dafür halte. Und zum andern finde ich es grauenhaft in der heutigen Zeit, dass da Leute kommen und sagen, es ist so, und wenn du das nicht glaubst, muss ich dich leider umbringen. Das war doch vor 500 Jahren so. Aber jetzt sollte es doch eigentlich nicht mehr so sein.
Rauchen Sie eigentlich noch?
Ja, ja.
Dann brauchen Sie jetzt eine Zigarette?
Ja.