Der britische Kritiker hat unserer Generation gezeigt, wie man unter die Oberfläche eines Bildes schauen kann und wie man klug darüber schreibt, ohne in den akademisch-verstiegenen Ton zu verfallen. Ich dachte an ihn anlässlich meiner Kolumne für die Sonntagszeitung – und las nochmals einen Text von ihm. Hier die Kolumne.
Der europäische Augenblick
Weil er uns am Montag endgültig verlassen hat, nehme ich John Bergers Essays zur Hand. «Gute Nachrichten, schlechte Nachrichten», heisst das schmale Buch, erschienen 1992, noch bei Reclam Leipzig, dem DDR-Überbleibsel des nach Stuttgart übersiedelten Verlags. Nur fünf Essays versammelt es, jedes ein Musterbeispiel behutsamer, zutiefst menschlicher Gedankenführung.
Im ersten schaut Berger Fotos an. «Was mich an diesen Fotos vor allem interessiert», schreibt er, «ist etwas Unsichtbares.» Natürlich, wie könnte es anders sein? Er hat uns ja mit seinem «Sehen» die Augen geöffnet für die Bedeutungskaskaden, die unter der Oberfläche lauern. Doch die Bilder, die Berger hier in seinem erstmals 1989 erschienenen Aufsatz anschaut, sind keine glänzenden Werbeaufnahmen, deren manipulative Absicht man dechiffrieren muss. Nein, es sind Schnappschüsse, Fotos von gewöhnlichen Menschen, die nach dem Mauerfall aus dem Osten nach dem Westen strömen.
Aus den Gesichtern dieser Menschen versucht Berger, die Zukunft Europas herauszulesen. Wie eine Wahrsagerin die Karten, liest er die Blicke der Neuankömmlinge. Sie wirken erschreckt, doch glücklich. Erfüllt, doch ohne Lächeln. Diese Menschen verkörpern den Bankrott des idealistischen Prinzips des Gemeinwohls, sie geben dem heroischen Eigennutz des Kapitalismus recht. Berger beobachtet, wie die sozialistischen «Renegaten» in den konsumwarmen Mutterbauch des westlichen Europas zurückkriechen. Auch für ihn ist es ein schöner «europäischer Augenblick» der Vereinigung, er erkennt ein «ernsthaftes Glück» darin.
«Wie lange kann dieser Augenblick währen?», fragt Berger aber bange. «Alle erdenklichen Gefahren der Geschichte liegen auf der Lauer. Intoleranz, Fanatismus, Rassismus.» Die Rückkehr des Ausgegrenzten berge die Gefahr einer neuen Geldgier in sich, sinniert er, «die dem Gesetz des Dschungels zum Durchbruch verhelfen könnte». Düstere Einsicht, nüchtern festgestellt. Das Verschliessen der Augen vor einer unbequemen Wahrheit war Bergers Sache nun mal nicht.