I like

Mir gefällts. Ist dieses Urteil der Ursatz der Kulturkritik? Wenn dem so wäre, dann würde dieses allgegenwärtige Daumen-hoch-Händchen diese tatsächlich, wie manche behaupten, überflüssig machen. Alle «liken»! Sodass sich die ratsuchenden Zerstreuungswilligen selbst entscheiden können, wessen Daumen sie folgen wollen (Freunde? Koryphäen? Promis?). Sie dürfen dabei auch – Big Data sei Dank – auf parawissenschaftliche Methoden zurückgreifen, sich der Mehrheit, der Minderheit oder gar dem Durchschnittsbürger anschliessen. Wozu also noch Kulturkritik?
Doch so einfach ist die Sache mit dem «I like» nicht. Wir Kulturjournalisten kennen alle diesen toten Winkel der Urteilsfähigkeit, den gerade die persönliche Betroffenheit schafft. Ist ein Thema im Spiel, das uns persönlich, aus biografischen oder sentimentalen Gründen, ganz besonders am Herzen liegt, ist oft das ästhetische Urteil jäh getrübt. Da geht einem manchmal die dargestellte menschliche Tragödie oder das ausgemalte Glück so nah, weil etwas Ähnliches schon im eigenen Leben geschah und/ oder einen immer noch beschäftigt. Erfahrungsgemäss verblassen die erworbenen Kriterien vor so einem Fall, man merkt dann oft nicht auf Anhieb, wie simpel die damit verbundene Erzählung gestrickt ist, wie kitschig die ästhetische Referenz, wie unlogisch die Argumentation usw.
Darum sollte Daumen hoch und runter niemandem genügen. Eine facettenreiche Besprechung, ein vorwitziges Interview oder ein Essay, die vom Hundertsten ins Tausendste kommen (und dann auch den Weg zurück nicht scheuen), sind ja selber Kultur. Sie machen erst ein Buch, einen Film, eine Theateraufführung zum kollektiven Erlebnis, sie bieten Lesarten an, verhelfen Bedeutungen zur Entfaltung, bauen tragfähige Sinnkonstrukte – und sorgen für Orientierung im dichten Informationsurwald.
Die Formel «Begreifen, was uns ergreift», einst vom Zürcher Germanisten Emil Staiger geprägt, gilt heute stärker denn je. Der Daumen allein ist nicht viel wert. Er braucht andere Finger, er braucht Zungen, Hirne. Und auch Galle sollte dazugehören.
Diese Kolumne von Ewa Hess erschien in der SonntagsZeitung am 5.11. 2017

About Ewa Hess

Swiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, Zürich

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