Bärfuss vs. Berset

Nachdem die Solthurner Literaturtage eine Begegnung zwischen dem Schriftsteller Lukas Bärfuss und dem Bundesrat Berset angekündigt haben, bat ich Bärfuss um ein Treffen – im Vorfeld. Wir unterhielten uns dann im Bahnhofbuffet Zürich über die Sprache der Politik, die Macht des Virtuellen und Max Frisch als Strafaufgabe

Ewa Hess

Ihre Diskussion mit Bundesrat Berset wird in der Presse als «Bärfuss gegen Berset» angekündigt. Ein Kräftemessen?

Nein, ein Kampf ist nicht beabsichtigt. Ich kenne nur einen Gegner – das sage ich auf die Gefahr hin, ­eitel zu klingen –, das bin ich selbst. Deshalb fange ich mit der Kritik immer bei mir an.

«Zur Sprache finden» heisst das Thema – diskutieren Sie auf Deutsch oder auf Französisch?

Damit sind wir schon mitten in der Diskussion um die Schweizer Identität, in der es immer auch um die Vielsprachigkeit geht. Das wird interessant werden.

Interessant oder intéressant?

Ich versichere Ihnen, mein Französisch ist gut genug.

Sie werden sich also auf Französisch unterhalten?

Sicher auch.

Sprechen Politiker und Schriftsteller vom Gleichen, wenn sie von der Sprache sprechen?

Jedenfalls bewegen sich Politiker – wie die Schriftsteller auch – in einem System, das sprachlich ­definiert ist. Die Gesetze sind in Sätze gefasst. Die Bundesverfassung ist ein Text.

In der Politik geht es aber um eine «Sprachregelung» – so nennt man die unverfänglichen Amtsformulierungen –, in der Dichtung hingegen um einen freien Umgang mit dem Wort.

Dennoch ist ein Gesetz zuerst Sprache und muss also interpretiert werden. Deshalb geht den Anwälten die Arbeit nie aus. Mich als Schriftsteller interessiert aber vor allem das, was die Sprache nicht ausdrücken kann.

Wie meinen Sie das?

Der Schriftsteller ist einer, der die Sprache nicht versteht. Er bleibt ihr gegenüber kritisch, sucht ihre Grenzen. Erst dort gibt es etwas zu entdecken.

Und der Politiker?

Ein Politiker muss Interessen definieren und durchsetzen. Bei ihm heisst es: Wir bezahlen exakt so und so viel Steuern, die Höchst­geschwindigkeit ist siebzig, Frauen haben keine Quote und Ausländer weniger Rechte. Er setzt damit eine Wirklichkeit, und es gibt Menschen, die unter dieser Wirklichkeit leiden.

Gerade darum verstecken sich doch Politiker gerne hinter sogenannten Unwörtern wie «Ventilklausel» oder «Klimakompensation».

Politiker sind tatsächlich oft die Lieferanten dieser Worthülsen, doch nicht sie alleine schleusen sie in den öffentlichen Diskurs ein.

Sehen Sie die Rolle des Schriftstellers darin, die Öffentlichkeit dafür zu sensibilisieren?

Die Verantwortung für eine adäquate Sprache soll man weder an Schriftsteller noch an Politiker delegieren. Die Aufgabe haben alle.

In Ihrem Buch «Stil und Moral» sprechen Sie von einer «wachen» im Gegensatz zu einer «schlafenden Öffentlichkeit».

In diesem Essay, «Das Volk und ich», geht es um die Rechtfertigung der Volksinitiative als ein Instrument der Veränderung. Aber ohne Zweifel verändert sich die Öffentlichkeit gerade dramatisch.

Woran erkennen Sie das?

Es gibt so etwas wie eine gesellschaftliche Hypnose. Wir sind alle endlos fasziniert von unseren technologischen Möglichkeiten. Das Virtuelle definiert die Orte, Methoden und Prozesse des Öffent­li­chen um, während aber unser Staat und viele unserer Rechte noch eine physische Präsenz voraussetzen.

Seit dem Erscheinen von «Stil und Moral» werden Sie als das Gewissen der Schweiz gefeiert, als neuer Max Frisch. Ist das ein Kompliment für Sie?

Ich weiss, dass es als Kompliment gemeint ist, und darum freut es mich. Es hilft mir aber nicht bei der Arbeit. Zuschreibungen sind keine Denkhilfe.

Wie stehen Sie zu Max Frisch?

Ich habe zu Frisch eine lange Beziehung, die früh in meiner Schulzeit begann.

Wie jeder Schweizer – seine Werke sind Schullektüre.

Ich bekam seine Texte als Straf­aufgabe.

Wie das?

Ganz konkret, ich musste sie zur Strafe aus dem Lesebuch abschreiben. Die Höchststrafe war «Der selbstsüchtige Riese» von Oscar Wilde, das waren neun Seiten. Bei geringeren Vergehen gabs «Der andorranische Jude» von Frisch. Der war kürzer. Frisch war für mich also das kleinere von zwei Übeln.

Sehen Sie sich selbst als seinen Nachfolger?

Nein, der Vergleich ist unzulässig. Max Frisch und ich sind nicht Zeitgenossen. Er sah sich einer anderen geschichtlichen Situation gegenüber. Das bipolare politische System existierte damals noch. Und auch die atomare Bedrohung. Während jetzt …

… ja, wie ist die Situation jetzt?

Deutlich unübersichtlicher. Es fällt zudem schwer, die eigene ­Si­tuation zu analysieren. Es bleibt ein Ringen, während man versucht, eine Haltung zu entwickeln …

Wie Sie es kürzlich in der Sendung «Arena» zur Flüchtlingstragödie taten?

Da reagierte ich auf eine konkrete Situation: Die Anfrage für die ­Sendung kam während meiner ­Ferien.

Und?

Ich war mit meiner Familie am ­Mittelmeer. Das Wasser war schrecklich kalt. Dazu die Bilder der Katastrophe vor der Küste Libyens in den Medien. Ich konnte dem Thema nicht ausweichen und beschloss, mich der öffentlichen Diskussion zu stellen.

Sie sagten in der Sendung, diese Flüchtlinge seien Helden. Warum?

Weil sie für die Aussicht auf eine bessere Zukunft ihr Leben riskieren. Auch in dieser Diskussion spielt die Sprache eine wichtige Rolle. Nehmen wir ein Wort wie «Schlepper». Warum sagen wir nicht «Fluchthelfer»? Ich habe kürzlich mit einem Freund gesprochen, dessen Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg aus den sowjetisch besetzten Zonen in den Westen geflohen ist – erfolgreich dank einem Fluchthelfer, dem man noch heute dankbar ist. Die Bezeichnung «Schlepper» beinhaltet eine Delegitimierung der Flüchtlinge, indem sie ihnen die Autonomie des Fluchtwunsches abspricht.

Sie wurden im Verlauf der Sendung zunehmend stiller. Hat Sie die Diskussion enttäuscht?

Nun, ich lege nur Wert auf Umgangsformen, möchte höflich bleiben und Menschen ausreden lassen. Das sind keine Tugenden, mit denen man in einer solchen Sendung zu Potte kommt.

Das klingt wie eine – höfliche – Kritik an der «Arena».

Nein, das sind die Spielregeln. Ich lebe gerne nach dem Prinzip, mich einmal pro Tag lächerlich zu machen. Im Unangreifbaren zu bleiben, würde mich langweilen.

Rufen Sie darum Ihre Leser dazu auf, Ihr Buch wegzu­werfen? «Die Lektüre ­literarischer Essays ist ­moralisch nicht zu recht­fertigen», heisst es im letzten Satz von «Stil und Moral».

Ich werde auf diesen Text oft angesprochen und merke, dass er nicht überall verstanden wird. Das ist eine poetische Haltung! Eine Polemik gegen eine Überzeugung der bürgerlichen Verfasstheit: dass uns Kunst zu besseren Menschen macht. Das tut sie aber nicht immer. Dafür liefert uns das 20. Jahrhundert genug Beispiele.

Sie erwähnen im Buch neben Frisch den anderen grossen Schweiz-Kritiker, ­Dürren­matt. Sie nehmen Bezug auf seine Havel-Rede, in der er sagt, die Schweiz sei ein Gefängnis.

Ist doch schon sehr frivol, wie Dürrenmatt in Gegenwart Václav Havels, der wegen seiner Überzeugung Jahre im Gefängnis sass, eine ­hübsche Anekdote konstruiert. Das war eine dürrenmattsche Unanständigkeit, allerdings eine sehr produktive.

An den Solothurner Literatur­tagen wurde gerade auch über die «Literatur in der Krise» debattiert. Auch frivol?

Den meisten in der Schweiz geht es gut, wir haben wenig zu klagen: Doch es gibt ein Bewusstsein, das über die wirtschaftliche Situation hinausgeht. Und dieses Bewusstsein ist in der Krise.

Inwiefern?

Wir glauben nicht mehr an den unbegrenzten Fortschritt. Er war in den letzten 300 Jahren der Motor, der uns angetrieben hat. Was soll ihn ersetzen? Dazu gibt es noch kaum eine Idee. In der Krise ist unsere Vorstellung von der Zukunft.

Ein starkes Wort: die Zukunft in der Krise.

Viele unserer fundamentalen Werte stehen zur Diskussion. Wo liegt heute das Hoheitsgebiet eines Staates, wenn die Territorien der Politik und der Wirtschaft zunehmend immateriell werden? Welche Polizei, welches Gericht kann meine bürgerlichen Rechte verteidigen, wenn diese Rechte im virtuellen Raum angegriffen werden?

Der Bundesrat, mit dem Sie heute diskutieren, hat schon mit der Altersvorsorge und den Medikamentenpreisen alle Hände voll zu tun.

Sehen Sie, zum Beispiel auch das: Ich habe redlich versucht, mir eine Meinung über die Altersvorsorge zu bilden. Ohne grossen Erfolg. Die Fakten und die Argumente sind dürr. In der Schweiz werden die Folgen der demografischen Entwicklung zu wenig diskutiert. Das wird uns in zwanzig Jahren auf die Füsse fallen.

Könnte ein Schriftsteller das Land zur Diskussion zwingen?

Ach was, ich kann nicht einmal meine eigenen Kinder zu etwas zwingen.

Die Sprache im Zentrum

Die Begegnung schliesst die 37. Literaturtage ab:  im Solothurner Landhaussaal diskutieren der Schriftsteller Lukas Bärfuss, 44, und Bundesrat Alain Berset, 43, über den Beitrag der Sprache zum Wohlergehen eines modernen Staates. Sie tun es auf Deutsch und Französisch, wie es sich für eine gutschweizerische Veranstaltung gehört. Der in Thun geborene und in Zürich lebende Schriftsteller Bärfuss, der zu den bedeutendsten literarischen Stimmen im Land zählt, ist bereits im Vorjahr mit dem Solothurner Literaturpreis für seinen autobiografischen Roman «Koala» ausgezeichnet worden. Seine Theaterstücke werden weltweit gespielt. Das neue Buch des Autors, die Essaysammlung «Stil und Moral», ist im Wallstein-Verlag erschienen.

Publiziert in der SonntagsZeitung, Beitragsbild von Dominique Meinenberg

About Ewa Hess

Swiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, Zürich

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