Okwui Enwezor meint das ernst – Marx’ Analyse der herrschenden Verhältnisse gilt im Wesentlichen nach wie vor. Die techno- und pharmakologisch aufmunitionierte Wirtschaft macht sich die menschlichen Ressourcen mehr denn je untertan. Enwezor, ganz der optimistische Pädagoge, hat für die Lesung ein riesiges Auditorium mitten im Ausstellungsrummel bauen lassen – doch die zu unterrichtenden Massen bleiben aus. In den anderen Ausstellungssälen stehen sich die vielen Besucherinnen auf ihre Louboutins – die rote «Arena» bleibt eine tote Insel der wirkungslosen Ermahnung.
Prognose: Marxlesung hin oder her – das Kapital ist und bleibt König, in der Kunst und auch sonst überall.
These 2. Die Hoffnung Am stärksten tritt sie im ukrainischen Pavillon zu Tage: Der heisst «Hope»! Hoffnung worauf? Auf eine unabhängige Ukraina, erklärt der Pavillonkurator. Das Häuschen Ukrainas ist ganz aus Glas. Es steht nicht in den Giardini, sondern an der Uferpromenade zwischen San Marco und der Biennale. Transparent, frei, friedlich soll es wirken. Viele der hier ausgestellten Werke sprechen aber von Unterdrückung, Krieg, Hass. Trümmer der Autos, zu einer Skulptur zusammengeballt, Bilder aus der russischen «verbotenen Zone». Der Glaspavillon erweckt daher eine andere Assoziation als die gewünschte: Er wirkt fragil.
Prognose: Dieser Konflikt wird noch lange der Hoffnung trotzen.
These 3. Die Versöhnung Für die armenische Präsentation auf der Insel San Lazzaro hat die Schweizer Kuratorin mit armenischen Wurzeln, Adelina von Fürstenberg-Cüberyan, auch einen Türken eingeladen. Der Künstler Sarkis, der sein Land Türkei an der Biennale ebenfalls repräsentiert, folgte ihrem Ruf, und die armenische Diaspora, um die es in der Ausstellung geht, protestiert nicht vor der Insel. Doch der Wunder nicht genug: Indien und Pakistan, seit Jahrzehnten im Bruderzwist um Territorialansprüche gefangen, treten gemeinsam in einem Pavillon auf. «My East is Your West», heisst der Auftritt, was nicht nur geografisch Sinn macht.
Prognose: Der Mensch kann seine alten Ressentiments überwinden. Wenn das keine gute Nachricht ist?
These 4. Die Bäume Die stehen stellvertretend für die Natur. Im französischen Pavillon bewegen sie langsam die Wurzeln (inszeniert vom Künstler Céleste Boursier-Mougenot), im finnischen Pavillon beschwört das Künstlerkollektiv IC-98 das «grüne Gold» der nordischen Wälder.
Prognose: Die ist schlecht. Und zwar für die Natur. Menschen lieben Bäume, vor allem aber, wenn sie mit ihnen machen können, was ihnen passt.
These 5. Die Lebensmitte An den Biennalen zeigen die Kuratoren gern künstlerisches Frischfleisch. Oder aber entdecken die ganz Alten (wieder). An dieser Biennale sind erstaunlich viele Künstler in der Mitte ihrer Karriere vertreten: etwa der deutsche Olaf Nicolai, 53, die Engländerin Sarah Lucas, 52, ihr Landsmann Chris Ofili, 46, der Türke Kutlug Ataman, 54.
Prognose: Bis zum Greisenalter auf Jung machen ist vorbei. Der Lebenszyklus darf gleichmässig ablaufen.
These 6. Der Brainpower Trifft man jüngere Künstler in den Pavillons, staunt man über ihr flinkes Denken. Das beste Beispiel: die Schweizerin Pamela Rosenkranz. Das vielschichtige Bezugssystem ihres Werks hat mit Neurowissenschaft, Genetik, Biochemie zu tun. Ihre blubbernde rosa Masse «Our Product», die den Schweizer Pavillon füllt, ist nicht nur wunderschön, das Werk regt auch zum Denken an. Oder der Rumäne Adrian Ghenie, auch 35, der sich mit seiner eindrücklichen Malerei mit Darwins Theorien auseinandersetzt.
Prognose: Nach Jahren des hedonistischen Bling-Bling wird nun die Intellektualität Trumpf.
7. Die «Singularity» Was ist denn das? Mit diesem Wort bezeichnen die Technologie-Theoretiker den Moment, in dem die künstliche Intelligenz die natürliche (sprich menschliche) überholen wird. Das erklärt die katalanische Kuratorin Chus Martinez, die seit kurzem die Basler Hochschule für Gestaltung und Kunst leitet. In der SF-Literatur wird dieser Moment als der des grossen Schreckens inszeniert: Die Computer und Roboter gehen dem Menschen ans Eingemachte. Ganz falsch, lernen wir nun im katalanischen Pavillon, den Martinez als Kuratorin gemeinsam mit dem u. a. auch in Locarno ausgezeichneten Filmemacher Albert Serra bespielt. Um zu zeigen, wie angenehm eine solche Fusion sein kann, erinnern die Katalanen an die Geschichte des Kinos – und zeigen die Kinematografie als eine bereits domestizierte maschinelle Erweiterung des menschlichen Hirns. Die mit Handy und Internet aufgewachsene Generation sehnt sich offensichtlich nach der Verschmelzung mit der Maschine. Davon spricht auch die Installation im deutschen Pavillon, wo die Künstlerin Hito Steyerl die Besucher ins Innere einer durchaus freundlichen Matrix versetzt.
Prognose: Seid umschlungen, Brüder und Schwestern Maschinen!
8. Das Kollektiv Die künstlerische Individualität, im romantischen Konzept des Malergenies scheinbar für ewig in die Hirne eingebrannt, weicht dem Idealbild des Kollektivkünstlers. Duos, Trios und ganze Gruppen von schöpferisch tätigen Menschen bestimmen in gemeinsamer Anstrengung zunehmend die Szene. Das indische Raqs Media Collective etwa dominiert die Aussenräume der Giardini. Die drei Künstlerinnen und Künstler schmücken die Alleen mit ihrem «Coronation Park», einer Serie grosser Skulpturen aus Fiberglas. Geistliche und militärische Autoritätsfiguren thronen hoch auf ihren weissen Sockeln, auch wenn ihr historisches Bröckeln schon weit fortgeschritten zu sein scheint. Auch der kanadische Pavillon wird von einem Kollektiv bespielt, das sich BGL nennt. Beim Anblick der ausufernden – und für einmal sehr heiteren – Installation wird es einem augenblicklich klar, weshalb sechs Hände hier erfolgreicher waren als zwei. Die norwegische Vertreterin Camille Norment, die ihrer Glasharfe die wundersamsten Töne entlockt, lädt die anwesenden Künstler zu gemeinsamen Konzerten ein. Und: Die Bienen kommen auffallend oft in den ausgestellten Werken vor.
Prognose: Der in den Neunziger- und Nullerjahren überstrapazierte Individualismus hat die Menschen erschöpft. Sie sind bereit, zusammenzuspannen.
9. Die Immigranten Diese haben keinen Pavillon an der Biennale. Woran ein überall angebrachtes Graffito erinnert. «Anonymous Stateless Immigrant’s Pavilion» verkündet die Schablonenschrift auf Venedigs Mauern und Brücken, der dazugehörige Pfeil zeigt ins Leere. An die vom Wohlstand Ausgeschlossenen erinnern aber Werke, die in der Hauptausstellung prominent vertreten sind. Etwa die riesige Wand aus alten verbeulten Koffern, die neben der marxschen «Arena» den Hauptpavillon beherrscht. Es ist ein Werk des bisher zu wenig beachteten, 2009 verstorbenen italienischen Künstlers Fabio Mauri. Mauri schuf es 1993, eigentlich in Erinnerung an die Gräuel des Faschismus und die Aussiedlung von Menschen in Konzentrationslager. Die Wand, die Mauri «Klagemauer» nennt, könnte aber symbolisch für jede Verachtung des menschlichen Lebens stehen. Andere, jüngere Exponate sprechen aktuelle Ungerechtigkeiten an: «Who’s Building the Guggenheim Abu Dhabi?», fragt etwa das Künstlerkollektiv Gulf auf einem grossen Plakat.
Prognose: Siehe Punkt 1. Solange die verwöhnten Eliten ihre Betroffenheit beim Ausstellungsausgang abgeben können …
10. Das Fazit Seltsam mild, ja gar versöhnlich ist diese als politisch angekündigte Biennale ausgefallen. Dabei hat der Kurator Okwui Enwezor im Vorfeld eine reinigende Gewalt der streitbaren Kunst heraufbeschworen. Könnte es sein, dass er damit eine sanfte Kraft meinte, die ihr heilsames Gift nur langsam entfaltet? Wie dieser seltsame Titel im Plural, der so tut, als ob es nicht nur eine Zukunft für alle gäbe. «All the World’s Futures» – aber Moment mal: «Futures»? So nennen doch die Finanzjongleure eine Spekulation auf den künftigen Wert einer Ware.
Publiziert in der SonntagsZeitung am 10.5.2015