Anlässlich der grossen Schau im Kunsthaus darf ich ein langes Interview führen mit der Künstlerin, deren Werk ist schon seit zwei Jahrzehnten beobachte und schätze. Herzlich und grosszügig schenkt mir die Frau, die sich selbst als Kobold in spe bezeichnet, ihre kostbare Zeit im Vorfeld der Eröffnung einer Ausstellung, die sie tief bewegt.
Wir treffen die Künstlerin im Tram. Als wir vor dem Kunsthaus am Zürcher Heimplatz aussteigen, werden wir sofort von Menschen angesprochen. Sie erkennen Pipilotti Rist und gratulieren ihr zur Ausstellung. «Toll!», sagen sie oder «Bravo!». Die Räume ihrer Kunsthausschau «Dein Speichel ist mein Taucheranzug im Ozean des Schmerzes» sind dunkel, das pulsierende Licht der Projektionen flimmert. Pipilotti posiert in diesem geheimnisvollen Interieur für den Fotografen. Weil die Ausstellung sehr gut besucht ist und die Menschen neugierig zuschauen, wirkt die Fotosession schnell wie eine Performance.
Pipilotti Rist, war es Ihnen peinlich, in der Ausstellung fotografiert zu werden?
Ach, das ist kompliziert. Ich will auf keinen Fall wie eine Diva wirken! Anderseits weiss ich, dass ich den Besuchern der Ausstellung zutrauen kann, dass sie wissen, dass das Fotografiertwerden zu meinem Job gehört.
Sind Sie denn gar nicht eitel?
Doch, ich bin es, aber meine Eitelkeit ist auf die Arbeit bezogen. Es soll künstlerisch und technisch alles perfekt sein!
In der Zürcher Ausstellung wird auf ein Bett projiziert, Monitore stecken in den Handtaschen. Gibt es einen Gegenstand, in den Sie keine Technik verpacken würden?
Vieles kann ein Giver und fast alles ein Catcher sein.
Giver und Catcher?
Giver nenne ich die Projektoren und Monitore, Catcher die Objekte, Wände oder Stoffe, auf die projiziert wird.
Stimmt das, dass Sie in Ihrem Team nur Frauen für die Technik anstellen?
In der Videotechnik stimmt es. Für Holz, Metall und Architektur arbeite ich mit einem talentierten Quotenmann.
Sind Frauen bessere Technikerinnen?
Ja. Und sie sind transparenter. Ich will immer wissen: Wie haben wir ein Resultat erreicht? Die Forschung, die Fehlerbehebung ist eine wichtige Inspirationsquelle. Auch diese Ausstellung hat den Pixeltussis viel Kopfzerbrechen bereitet…
… die Mitarbeiterinnen wissen, dass Sie sie Pixeltussis nennen?
So nennt uns alle der Quotenmann. Aber ich muss meine Aussage zur Transparenz revidieren. Ich habe inzwischen jüngere Männer getroffen, die sehr mitteilsam sind. Man merkt: Das ist die «Open source»-Generation. Ich selber stamme aus einer Zeit, als man jede Maschine, die man beherrscht hat, gehütet und verteidigt hat, weil man Angst hatte, dass einem jemand das Know-how stiehlt.
Seit wann merken Sie den Generationenwechsel?
Erst kürzlich habe ich es bei den Dallas Cowboys festgestellt.
Was machen Sie bei den Dallas Cowboys?
Sie haben mich angefragt, für ihr American-Football-Stadion eine Kunstinstallation zu machen, die über ihre 3500 Monitore flimmert. Und da habe ich Männer getroffen und staunte, von ihnen sehr ernst genommen zu werden. Die haben den grössten LED-Screen der Welt, wussten Sie das?
Und Ihre Kunst soll während eines American-Football-Matches laufen?
Ja, es ist trickreich, weil ich zwar etwas entwerfen soll, aber es nicht in der Hand habe, wann es eingespielt wird.
Funktioniert Kunst mitten in der Werbung und den Spielresultaten?
Das wird dann meine Aufgabe sein, etwas zu entwerfen, das funktioniert. Ich habe das am Beispiel einer Installation der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer live gesehen. Also die Stimmung im Stadion heizt sich auf, es ist sehr intensiv, und plötzlich leuchtet so ein Schriftband Holzers auf, etwa: «Abuse of power comes with no surprise.» Stark.
Wissen Sie schon, was Sie vorschlagen?
Nein, ich bin erst dran.
Ihre Themen sind oft intim. Etwa das Werk «Ginas Mobile» in der Zürcher Ausstellung, in der die Kamera den weiblichen Genitalien entlanggleitet.
Ich will erst zur Bezeichnung «intim» etwas sagen. Es kommen Bilder in unserer Welt vor, die scheinbar intim sind. Aber solange ich kein Gefühl von der Person dazu erfahre, ist es für mich nicht intim, auch wenn ich nahe ans Fleisch gehe.
Ist nun «Ginas Mobile» intim?
Eher universell denn intim. Das Video basiert auf mehreren hoch aufgelösten Aufnahmen von Vulven, die wir wie teure Uhren ausgeleuchtet haben, mit goldenen Reflexen und warmem Licht. Die ganze Projektion ist wie ein Mobile auf einem dünnen Faden aufgehängt…
… Mobile im Sinne einer beweglichen Skulptur?
Genau, und gerade das fragile Gleichgewicht der Installation symbolisiert, wie wir Menschen aus dem Konzept kommen, wenn wir an unterschiedlichen Stellen unserer Haut berührt werden. Unsere Schleimhäute, also Lippen oder Geschlechtsteile, sind Haut, wie der Handrücken auch. Und doch können uns Berührungen an gewissen Stellen komplett aus dem Gleichgewicht bringen, unser Herz aufreissen.
Das gilt auch für Männer, nicht wahr?
Natürlich, das gilt genauso für die Haut auf der Eichel.
Dieses Spiel mit der Pornografie, die nicht pornografisch ist, war schon früh Ihr Thema, etwa im «Pickelporno» von 1992.
«Pickelporno» war damals ganz klar aus der Pornografiediskussion entstanden. In den 90er-Jahren haben sich viele daran gestört, dass die Sexualität so ausgeschlachtet wird. Mich hat mehr interessiert, darzustellen, wie sich diese Gefühle aus einer weiblichen Sicht zeigen.
Ist Sex überhaupt darstellbar?
Nur schwer, weil jede Darstellung nur an der Oberfläche kratzt – oder sollte ich sagen reibt?
Heute ist Pornografie allgegenwärtig, Jugendliche schauen sie auf den Handys an. Verändert das etwas an der Aufgabe der Künstlerin?
Es ist umso wichtiger, sie auch zum Thema zu machen. Die pornografische Darstellung blendet einen wichtigen Teil der Realität aus, den muss man erklären. Mit der extremen Hochauflösung, die heute möglich ist, kommt noch das Thema der Körperdarstellung dazu – jede Unreinheit der Haut wird wegretuschiert, was ein falsches Bild vermittelt. Jugendliche sollen lernen, wie man Filme macht, und selber welche machen.
Machen sie ja auch, mit dem Handy, und schicken dann die Nacktaufnahmen von sich herum. Ein Problem?
Eher Anreiz dazu, junge Menschen anzuleiten, wie man mit den Medien kompetenter umgeht. Gewisse Schulen lehren es ja bereits.
Sie sind ja selber Mutter eines 14-jährigen Jungen. Sind solche Fragen ein Thema im Hause Rist?
Jugendliche sprechen nicht über alles mit den eigenen Eltern. Das war schon immer so, denn sie lösen sich ab und müssen ein eigener Mensch werden.
Ihre Zürcher Ausstellung wird von vielen Familien besucht, da gucken Mama, Papa und die Kinder gemeinsam zu, wie sich in Ihrer Installation «Mutaflor» der Mund öffnet, der After zusammenzieht…
Vielleicht lachen sie gemeinsam darüber, wie sie vom Bild gefressen werden, das würde mir gefallen. Mir geht es auch darum, zu entkrampfen. Ich finde unseren Umgang mit den komplizierten Körpergegenden oft hysterisch.
Im Katalog zur Ausstellung ist auch ein Beitrag von Giulia Enders, der Autorin des Bestsellers «Darm mit Charme», publiziert. Fanden Sie das Buch gut?
Genial! Es stehen dort so viele kleine interessante Sachen drin, die ich nicht gewusst habe, etwa warum wir am morgen Mundgeruch habe. Wussten Sie es?
Nein, warum?
Weil der Speichel in der Nacht nicht läuft und die Bakterien im Mund nicht von der gesunden, heilenden Flora des Speichels abgetötet werden.
Speichel kommt auch im Titel Ihrer Ausstellung vor – «Dein Speichel ist mein Taucheranzug im Ozean des Schmerzes». Was wollten Sie damit sagen?
Der Titel geht auf einen alten Song von mir und Anders Guggisberg zurück. Mich haben Körpersäfte immer schon interessiert.
Hat das etwas damit zu tun, dass Ihr Vater Arzt war?
Vielleicht. Er hat uns fünf Kinder immer für die Naturwissenschaft begeistern wollen. Und hat etwa kleine Fehlgeburten mit nach Hause gebracht, wir durften sie anschauen, wie sie mit Äderlein übersät waren. Das war für uns Kinder faszinierend. Wir durften auch helfen an den Wochenenden, wenn er Wunden genäht hat oder gebrochene Beine gegipst.
Kommt daher Ihr Drang, die Welt zu verbessern? Sie haben sich sogar in der deutschen «Zeit» als eine Fix-it-Frau zum Ausschneiden dargestellt.
Ja, als eine, die den Kabelsalat ordnet. Hier (schaut sich im Sitzungszimmer des Kunsthauses um) sehe ich keine losen Kabel, es gibt für mich nichts zu tun.
Ist es die Aufgabe des Künstlers, die Welt zu verbessern?
Die Antwort ist: Ja. Die Frage bleibt aber: Wie kann er das am besten tun? Es ist eigentlich die Aufgabe eines jeden Menschen, Schmerzen zu vermindern, Möglichkeiten aufzuzeigen, sich gegenseitig zu trösten.
An der Vernissage Ihrer Ausstellung trugen Sie einen «Nein»-Knopf, wenige Tage später scheiterte die Durchsetzungsinitiative an der Urne. Ist es die Aufgabe des Künstlers, sich in die politische Diskussion einzubringen?
Ich bin natürlich froh, sehr froh, über den Ausgang der Abstimmung. Aber das ist die Demokratie, das ist immer das Hin und Her und eine endlose Diskussion.
War der Erfolg der «Zivilgesellschaft» für Sie nun ein Zeichen, öfter Ihre Stimme zu erheben?
Ach wissen Sie, das sollte man nicht überbewerten. Ich habe meine Meinung deutlich gesagt, aber ehrlich gesagt, die Menschen, die mich schätzen, waren sowieso schon gegen die Initiative. Auch sind Menschen, die ständig ihre Meinung den anderen um die Ohren hauen, auf die Dauer nicht glaubwürdiger.
Waren Sie zur Expo.02-Zeit weniger bescheiden? Da ging es doch auch um die Politik und das Bild der Schweiz.
Die Expo-Erfahrung war für mich extrem lehrreich. Ich würde heute einiges anders angehen. Die Mitmachinitiative etwa war schon geboren, als ich dazukam. Das war ein Konzept, das viele verletzte Seelen hinterlassen hat.
Hat die Expo der Schweiz etwas gebracht?
Unbedingt! Sie war ein Katalysator für Kräfte, Kontakte, Technologien. Biel etwa hat sich danach architektonisch zum See hin geöffnet.
In den letzten Jahren waren Sie ja öfter im Ausland anzutreffen als in der Schweiz und hatten Ausstellungen auf den meisten Kontinenten. Was bringen Sie von dieser Weltumrundung mit?
Die Erkenntnis: Mexiko hat die besten Schreiner der Welt! Und die Türkei die besten Elektriker. In Rotterdam war die Zusammenarbeit mit der Stadt und dem Team vorbildlich. Ich führe da übrigens eine Liste.
Eine Liste? Worüber?
Wir Künstler sind ja unablässig Gegenstand von Ratings. Darum führe ich als Gegenpol mein eigenes, privates Kuratorenrating.
Nach welchen Kriterien?
Die Spalten sind: Ehrlichkeit, Humor, Hilfsbereitschaft, Knowhow. Juliana Engberg aus Melbourne und Konrad Bitterli aus St. Gallen schwingen obenauf.
Als Sie vor vier Jahren die Retrospektive in St. Gallen hatten, wurde viel über die Wäscheleine mit Unterhosen im Stadtpark diskutiert. Haben Sie als Reaktion darauf Ihre Unterhosenlüster konzipiert?
Nein, die gab es schon vorher. Die Unterhosen umfassen den Teil eines Menschen, der am schwersten und dunkelsten ist. Ich wollte auf der Begriffsebene etwas Licht und Leichtigkeit in diese Regionen bringen. Im Schweizerdeutschen hat das Wort «liecht» auch diese zwei Bedeutungen, im englischen übrigens ebenso.
Stimmt das, dass diese Leuchtkörper aus gebrauchten Unterhosen von Freunden bestehen?
Ungewaschen! (lacht) Nein, ich habe sie schon gewaschen. Aber es stimmt, es sind gebrauchte. Auch alle meine Unterhosen landen in den Lüstern, ich trage selber keine mehr.
Sie haben einen erfrischend uneitlen Umgang mit Ihrem eigenen Körper. Auch damit, dass der Körper altert?
Wenn ich jetzt damit hadern würde, dass meine Haut faltig wird, dann wäre das nur vordergründig ein ästhetisches Problem. Hintergründig ist es eine philosophische Fragestellung. Man oder frau braucht im Verlauf des Lebens eine neue Rolle. Ist doch auch toll, neue Rollen auszuprobieren, nicht?
Haben Sie schon eine neue?
Ich suche noch ein bisschen. Mir würde «Dame» gut gefallen, aber es braucht so viel Zeit. Man muss sich schöne Kleider suchen, frisieren. Das liegt mir nicht. Ich bin vom Typ her nicht die elegante Person. Nein, ich denke, ich will aufs Alter eine Art Kobold werden. Dafür bin ich aber noch nicht alt genug.
Wird diese neue Figur auch Pipilotti heissen?
Ah, das wäre eine gute Idee – ein neuer Name? Warum nicht?
Magierin des Lichts
Pipilotti Rist, 53, aus Grabs im Rheintal ist die bekannteste Künstlerin der Schweiz. Seit Jahren wird sie auch zu den besten 10 Künstlern weltweit gezählt. Nach Ausstellungen in New York, London, Seoul und St. Gallen füllt sie nun bis am 8. Mai den Bührlesaal des Kunsthauses Zürich mit älteren und neueren Arbeiten, die sie zu einem sinnlichen Parcours zwischen Blumen, Zungen und Muscheln verwebt. Die Videomagierin lebt in Zürich mit ihrem Mann und Sohn,14.
Veröffentlicht in der SonntagsZeitung am 6.3.2016