Nach und nach tritt aus dem Dunkel ihrer selbst gewählten Anonymität auch die Persönlichkeit der ungewöhnlichen Fotografin hervor. Die umfangmässig bisher grösste Ausstellung ihrer Werke ist bald in Zürich zu sehen. Mit 150 Bildern wird die Schau einen einmaligen Zugang zum Universum der «fotografierenden Mary Poppins» bieten.
In der fruchtbarsten Zeit ihres Lebens, als sie für mehrere Jahrzehnte Unterschlupf bei einer Familie in Chicago als Erzieherin von drei Buben fand, machte sie auf diese Weise endlose Streifzüge und brachte reiche Beute heim – die sie aber nie sah, denn sie machte von ihren Negativen selten Abzüge. «Sie war sich ihrer Kunst so sicher», sagt der Kunsthistoriker Daniel Blochwitz, der die Zürcher Ausstellung kuratiert, «dass sie selten mehrere Aufnahmen des gleichen Sujets machte». Das Foto sass meist. Sofort.
Der Einstandspreis von 4000 Dollar, den Maloof für seine ersten Kisten zahlte (inzwischen hat er durch Zukäufe seinen Bestand komplettiert), steht natürlich in keinem Vergleich zum gegenwärtigen Wert dieser Negative, der auf Millionen geschätzt wird. Damit hängt auch die Frage des Copyrights wie die Vorahnung eines juristischen Unheils über dem Bestand.
Der erste Hickhack hat schon angefangen. Denn nebst Maloof, der mittlerweile an die 100 000 Negative besitzt (die Rechte hat er vorsorglich Maiers Cousin in Frankreich abgekauft – ob dieser der einzige Verwandte war, steht allerdings noch aus), gibt es noch den kanadischen Galeristen Stephen Bulger, der den Bestand von 20 000 Negativen dem Zwischenhändler Jeffrey Goldstein abkaufte und für Juni eine grosse Ausstellung plant.
Inzwischen hat man mehrere Familien ausfindig gemacht, für die Maier gearbeitet hat, und weiss auch, dass ihr einziger Bruder kinderlos in einer psychiatrischen Anstalt starb. Zeitzeugen berichten von einer Frau mit einigen Macken und viel Charakter (auch darin Mary Poppins nicht unähnlich), die weder Freunde noch Verwandte hatte und ihr Zimmer stets abschloss.
Aus den Fotografien, die nach und nach entwickelt werden, ergibt sich das Bild einer selbstbewussten Künstlerin, die genau wusste, was sie tat. Ja, sie war einsam, doch ausser den Kindern schien sie auf Gesellschaft keinen Wert zu legen. Ihren kleinen Gefährten sind denn auch ihre wärmsten Aufnahmen gewidmet, auch in dem in Zürich ausgestellten Konvolut. Doch «warm» heisst bei dieser Ausnahmefotografin nicht gefühlig und schon gar nicht sentimental, denn ihr Auge war vor allem eins: gnadenlos unbestechlich.
«Vivian Maier – Taking the Long Way Home», Photobastei Zürich, 4. März bis 3. April 2016