Die Frau mit der Rolleiflex

Die bisher grösste Schau der Fotografin Vivian Maier ist bald in Zürich zu sehen. Ich freue mich drauf und versuche rauszufinden, was mit dem in alle Winde verstreutem Nachlass tatsächlich geschieht. Nicht ganz einfach…
 «Die Entdeckung der Fotografin Vivian Maier, die vor sieben Jahren 83-jährig unerkannt, einsam und arm in Chicago starb, veränderte den Blick auf die Geschichte der Fotografie. Das immense Werk des fotografierenden Kindermädchens enthält Bilder, die schon jetzt zu den Klassikern gehören und sie in eine Reihe mit den Meistern wie Robert Frank, Paul Strand oder Henri Cartier-Bresson stellen.

Nach und nach tritt aus dem Dunkel ihrer selbst gewählten Anonymität auch die Persönlichkeit der ungewöhnlichen Fotografin hervor. Die umfangmässig bisher grösste Ausstellung ihrer Werke ist bald in Zürich zu sehen. Mit 150 Bildern wird die Schau einen einmaligen Zugang zum Universum der «fotografierenden Mary Poppins» bieten.

Vivian Maier setzte Menschen in alltäglichen, manchmal skurrilen Situationen ins Bild. Sie war in den Strassen unterwegs, sichtbar und doch unsichtbar, eine schmale, unauffällig gekleidete Frau mit strengen Gesichtszügen und einer grossen Rolleiflex-Kamera vor der Brust. Sie schien ihrem schweren Kasten den Vorzug vor der handlicheren Leica zu geben, vielleicht, weil man mit ihm beim Fotografieren nicht direkt zum Objekt, sondern in die Kamera runterschauen musste. Das gab ihr die nötige Distanz.

In der fruchtbarsten Zeit ihres Lebens, als sie für mehrere Jahrzehnte Unterschlupf bei einer Familie in Chicago als Erzieherin von drei Buben fand, machte sie auf diese Weise endlose Streifzüge und brachte reiche Beute heim – die sie aber nie sah, denn sie machte von ihren Negativen selten Abzüge. «Sie war sich ihrer Kunst so sicher», sagt der Kunsthistoriker Daniel Blochwitz, der die Zürcher Ausstellung kuratiert, «dass sie selten mehrere Aufnahmen des gleichen Sujets machte». Das Foto sass meist. Sofort.

Die Geschichte von Vivian Maiers Entdeckung mutet immer noch wie ein Märchen an. Die Kisten mit den Negativen (es waren ihrer 150 000) musste die später arbeits- und obdachlos gewordene Nanny in einem jener Lagerhäuser unterstellen, die es in Amerika zu Tausenden gibt. Als sie die Miete nicht mehr zahlen konnte, wurde ihr dort gelagertes Hab und Gut in einem Stück versteigert. So kam es zur Entstehung des «fragmentierten Archivs», wie es eine ihrer Biografinnen, Pamela Bannos, nennt.
Die Kisten wurden gekauft und wiederverkauft. Der Immobilienagent John Maloof war der erste, dem die Qualität des Materials auffiel. Seither verschrieb sich der Hobby-Historiker der Aufarbeitung, Bekanntmachung und auch dem Verkauf des immensen Schatzes. Der Dokumentarfilm «Finding Vivian Maier», der im vergangenen Jahr in den Schweizer Kinos lief, war ebenfalls seine Initiative.

Der Einstandspreis von 4000 Dollar, den Maloof für seine ersten Kisten zahlte (inzwischen hat er durch Zukäufe seinen Bestand komplettiert), steht natürlich in keinem Vergleich zum gegenwärtigen Wert dieser Negative, der auf Millionen geschätzt wird. Damit hängt auch die Frage des Copyrights wie die Vorahnung eines juristischen Unheils über dem Bestand.

 

Der erste Hickhack hat schon angefangen. Denn nebst Maloof, der mittlerweile an die 100 000 Negative besitzt (die Rechte hat er vorsorglich Maiers Cousin in Frankreich abgekauft – ob dieser der einzige Verwandte war, steht allerdings noch aus), gibt es noch den kanadischen Galeristen Stephen Bulger, der den Bestand von 20 000 Negativen dem Zwischenhändler Jeffrey Goldstein abkaufte und für Juni eine grosse Ausstellung plant.

 

Natürlich ist die Fotografin, die zur Zeit des ersten Verkaufs ihrer Kisten 2007 noch lebte und so unauffindbar wie krank im Spital lag, zum Gegenstand einer fiebrigen biografischen Suche geworden. An der sind auch noch die Kunsthistorikerin Pamela Bannos beteiligt sowie die pensionierte New Yorker Treuhänderin Ann Marks, die ihre Erkenntnisse im Internet publiziert (vivianmaierbio.wordpress. com).

Inzwischen hat man mehrere Familien ausfindig gemacht, für die Maier gearbeitet hat, und weiss auch, dass ihr einziger Bruder kinderlos in einer psychiatrischen Anstalt starb. Zeitzeugen berichten von einer Frau mit einigen Macken und viel Charakter (auch darin Mary Poppins nicht unähnlich), die weder Freunde noch Verwandte hatte und ihr Zimmer stets abschloss.

Aus den Fotografien, die nach und nach entwickelt werden, ergibt sich das Bild einer selbstbewussten Künstlerin, die genau wusste, was sie tat. Ja, sie war einsam, doch ausser den Kindern schien sie auf Gesellschaft keinen Wert zu legen. Ihren kleinen Gefährten sind denn auch ihre wärmsten Aufnahmen gewidmet, auch in dem in Zürich ausgestellten Konvolut. Doch «warm» heisst bei dieser Ausnahmefotografin nicht gefühlig und schon gar nicht sentimental, denn ihr Auge war vor allem eins: gnadenlos unbestechlich.

«Vivian Maier – Taking the Long Way Home», Photobastei Zürich, 4. März bis 3. April 2016

About Ewa Hess

Swiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, Zürich

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