Cohn-Bendits Dämonen

Im Hotel Castello del Sole in Ascona TI ist selbst die aufgeregte Stimmung eines Festivals kultiviert gedämpft. Die Sonne spiegelt sich im Lago Maggiore, internationale Literaten reisen an, um im Rahmen der Frühlingsveranstaltung «Eventi letterari» auf dem Monte Verità Ideen auszutauschen.

In diese Umgebung scheint Daniel Cohn-Bendit nicht so recht zu passen. Mit dem schnellen Schritt eines Berufspolitikers betritt der «rote Dany» die Lobby. Die Haare des deutsch-französischen Doppelbürgers sind nicht mehr rot, doch der Blick hinter der runden Brille verrät ungebremste Neugierde und Debattierlust.

Unser Treffen fällt mit seinem persönlichen Wendepunkt zusammen: Daniel Cohn-Bendit, 69, nimmt Abschied von der Politik. Nach 20 Jahren im Europaparlament als Vertreter abwechselnd der deutschen und der französischen Grünen setzt sich der ehemalige Rädelsführer des französischen Studenten­aufstands von 1968 zur Ruhe. Nach Jahren des Pendelns zwischen Brüssel und Frankfurt und einer überstandenen Krebserkrankung will Cohn-Bendit nun mit Ingrid Apel, mit der er seit 1997 verheiratet ist und einen erwachsenen Sohn hat, das Leben geniessen. Er wohnt in Frankfurt mit befreundeten Paaren gleichen Alters in ­einer Hausgemeinschaft.

Daniel Cohn-Bendit, Sie ­sprechen zum Thema ­«Politische Utopien und ­persönliche Dämonen». Was erwartet uns da?

Utopien und Dämonen sind das Thema des Literaturfestivals hier in Ascona. Ein gut gewähltes Thema, denn Utopien rufen Dämonen auf den Plan.

Inwiefern?

Utopien können sich radikalisieren und verselbstständigen. Darin liegt etwas Dämonisches, weil Utopie dann zum Selbstzweck wird und den Menschen aus dem Blick verliert.

Beispiel?

Schauen Sie meine Laufbahn an. Zuerst gab es für mich Sozialuto­pien – den Traum von einer besseren Gesellschaft. Verbunden mit der Revolte in den 60er-Jahren, hatte ich eine antiautoritäre Utopie. Daraus folgend, gab es für mich die grüne Utopie, das heisst die Vision, dass man Politik auch anders machen kann. Dann die europäische Utopie. Die Ziele mussten stets neu verhandelt werden, damit sie nicht auf Abwege geraten.

Abwege? Meinen Sie damit etwa den Terrorismus?

Absolut. Der Versuchung der Radikalisierung bis zur Gewalt hin bin ich klar entgegengetreten. Durch das Diskutieren, das Gegeneinanderabwägen kann man Dämonen im Zaum halten.

Sie haben aber immer ­provoziert. Führt Provokation nicht auch zu Gewalt?

Nein. Die Provokation zielt nicht auf die Vernichtung des anderen, im Gegenteil, sie will sich mit ihm auseinandersetzen. In den 70ern war meine Lust am Provozieren aber so stark, dass sich diese Haltung verselbstständigt hat – zum Dämon wurde. Ich wollte immer noch eins draufsetzen.

Etwa in der französischen ­Kultursendung «Apostrophe» von 1982. Sie sagen da, dass Sie ein Haschischbiskuit intus hätten und erzählen, wie Sie im antiautoritären Kindergarten mit Kindern Sexualität entdecken würden.

Sehen Sie, nein! Sie schildern das falsch. Nicht wie ich, sondern wie die Kinder die Sexualität entdecken! Das ist nicht das Gleiche. In dieser Sendung erzähle ich, wie die Kinder ihre Sexualität entdecken, und mokiere mich über die Reaktionen der Erwachsenen darauf.

Ähnliches beschrieben Sie 1975 in Ihrem Buch «Der Grosse Basar», das seit einigen Jahren unter Verdacht steht, pädophile Handlungen zu ­verherrlichen.

Eines mal vorweg: Diese Passagen waren nicht so gemeint, wie sie heute interpretiert werden. Überhaupt, das ganze Buch war nicht so gemeint, es war auch nicht nur Provokation, es gibt darin Kapitel über jüdische Identität in Israel, ein Thema, das mich heute wieder beschäftigt. Das Buch hat übrigens, als es herauskam, niemanden provoziert, es war überhaupt kein Skandal.

Inzwischen weiss die Gesellschaft aber viel mehr über den Missbrauch von Kindern. Es gab damals Opfer, Kinder, die nicht beschützt worden sind.

Ja, das ist empörend und sehr traurig. Aber ein Teil der Öffentlichkeit geht in diese Auseinandersetzungen nicht mit der Haltung «Versuchen wir zu verstehen, was da wirklich war oder nicht war», sondern mit der Haltung «Jetzt müssen wir ganz klar ein Urteil sprechen».

Mit scharfen Urteilen hat die Generation der 68er auch nicht gerade gegeizt.

Das stimmt. Es kann schon sein, dass das jetzt eine Retourkutsche ist. Ein Urteil, das jedes Argument zum Schweigen bringt.

Wie gehen Sie damit um?

Es hatte mich am meisten getroffen, als ich den Theodor-Heuss- Preis letztes Jahr bekommen habe und es in Stuttgart eine Demonstration gegen mich gab. Es hiess, man könne diesen Preis für freiheitliche Gedanken nicht einem wie mir geben.

Haben Sie das nicht erwartet?

Nicht in dieser Heftigkeit. Da ging es nicht mehr um den Text, da sollte plötzlich bewiesen werden, dass er einer pädophilen Realität entspricht. Was aber nie bewiesen werden konnte, weil es da keine gab. Da gab es meinerseits weder Gelüste noch Taten.

In der Schweiz wird bald über eine Initiative abgestimmt, die für Pädophile ein Berufsverbot für Arbeit mit Kindern fordert. Wie würden Sie stimmen?

Wohl dafür. Grundsätzlich ist es richtig: Wenn jemand pädophil ist, soll er nicht mit Kindern arbeiten. Das Problem liegt aber woanders.

Wo liegt es?

Man konzentriert sich dadurch auf Pädophile, die man durch ein Berufsverbot von den Kindern fernhalten kann. Dabei geht die Tatsache vergessen, dass die Mehrheit der pädophilen Täter Familienangehörige sind: Onkel, Väter. Das reale Problem umreisst eine andere Frage: Darf jemand, der begründet der Pädophilie verdächtigt wird, Vater werden?

Sie sagen: begründet. Heute wiegt auch ein unbegründeter Verdacht schwer.

Das stimmt. Darum wollen etwa in Deutschland immer weniger junge Männer Grundschullehrer werden oder in Kindergärten arbeiten. Ein Schüler meiner Frau hat ein Praktikum im Kindergarten gemacht. Er war begeistert, und die Leiterin hat ihn toll gefunden, aber gesagt, dass sie in Zukunft keine Männer mehr einstelle. Warum? «Weil wir aufpassen müssen.» Wir leben in einer Verdachtsgesellschaft. Spontane Zärtlichkeit den Kindern gegenüber ist gefährlich geworden.

«Du musst deine Freundin anders lieben», schrieben Sie in einer Schrift aus den 60er-­Jahren. Was meinten Sie damit?

Was weiss ich, was ich damals meinte. Aber heute vergisst man, wie verklemmt diese Gesellschaft damals war. In Frankreich brauchte eine verheiratete Frau die schriftliche Erlaubnis ihres Mannes, wenn sie ein Bankkonto eröffnen wollte. Bis 1973 war Homosexualität unter Strafe verboten. Es ging uns darum, ein offeneres Verhältnis zu Sexualität und Liebe zu entwickeln und nicht ein Herrschaftsverhältnis zwischen Mann und Frau.

Ihr eigenes Leben verläuft in Bahnen, die dem Ideal eines braven Bürgers entsprechen – man hört nichts von Exzessen oder Affären.

Ich habe es immer abgelehnt, aus meinem Privatleben Politik zu machen. Ich war keiner kommunistischen Sekte verfallen, Gewalt habe ich immer abgelehnt, und als ich der erste Multikultur-Dezernent in Frankfurt war, machte ich trotz meiner Radikalität immer vernünftige Politik. Ich kann nicht mit Joschka Fischer oder Gerhard Schröder gleichziehen, die vier-, fünf-, sechs- oder siebenmal geheiratet haben.

Ihr Weggefährte Joschka ­Fischer hat mal gesagt, dass es Ihrem Einfluss zu verdanken war, dass die Frankfurter Sponti-Szene sich weitgehend aus der RAF heraushielt. Empfanden Sie diese Versöhnlichkeit als einen Kompromiss?

Ja, im guten Sinne. Ich bin ein durch und durch kompromisssüchtiger Mensch.

Sie sind kompromisssüchtig? Verzeihen Sie, wenn ich überrascht bin.

Doch, doch. Schon 1968, als ich anfing, war das meine Stärke. Ich wollte immer alle mitnehmen. Ich sagte nicht: Die Radikalsten haben recht. Es gab Menschen, die in der Bewegung mitgemacht haben und nicht gleich eine revolutionäre Gesellschaft wollten. Ich wollte, dass die auch mitkommen.

Darum die Gewaltablehnung?

Nein, die ist ein Instinkt. Das hängt mit meiner Geschichte zusammen, also der Emigration meiner Eltern und einer tief sitzenden Angst vor der Vernichtung. Wenn ich einen Film über die Nazizeit sehe oder über die Lager in der Sowjetunion, muss ich mich sofort fragen: Was wäre gewesen, wenn du nicht 1945, sondern 1935 oder 1930 geboren worden wärst?

Ihre Eltern sind noch vor dem Krieg aus Deutschland nach Frankreich emigriert?

Ja, 1933. Mein Vater war Rechtsanwalt – der Linken. Nach dem Reichstagsbrand hat er einen Tipp bekommen, dass er verhaftet werden sollte. Er ist dann nach Frankreich gekommen. Meine Eltern führten da ein Heim für jüdische Kinder, deren Eltern deportiert worden waren. Nach dem Krieg hatten sie dann ein Kinderheim in der Nähe von Paris.

Kam daher Ihre Affinität zum Kindergärtnerberuf?

Das ist eine mögliche Überlegung. Später war meine Mutter Wirtschaftsleiterin in einem jüdischen Gymnasium, wo ich immer als Kind hinging. Im Sommer machte sie Sommerlager im Elsass. Ich war also immer in einem Kinderkollektiv.

Ihre Frau, mit der Sie seit 33 Jahren das Leben teilen, ist auch eine Lehrerin.

Ja. Wenn wir über unsere Kinder diskutieren – meine Frau hat einen Sohn aus einer anderen Ehe, und wir haben einen gemeinsamen Sohn, der jetzt 23 Jahre alt ist –, stellen wir fest, dass ich der Teil bin, der «overprotective» ist. Ich bin eine richtige «jüdische Mamme». Bis heute telefonieren mein Sohn und ich fast jeden Tag. Bei einer Frau würde man sagen: Kann die nicht loslassen?

Was studiert Ihr Sohn?

Wirtschaftswissenschaften. Nicht BWL, sondern Volkswirtschaft. Da wird man nachher einer wie Joseph Stiglitz oder Paul Krugman.

Hat er das vor?

Nein, um Gottes willen. Er studiert, hat einen Fussballverein gegründet. Das war, als er 18 oder 19 Jahre alt war, so eine Provokation, die er auf den Tisch legte.

Mit Provokationen kann man auch Zuneigung ausdrücken. Muss man Ihre Äusserungen gegen die Schweiz auch in ­diesem Sinne verstehen?

Ich äussere mich gegen die Schweiz?

Sie sagten, im Steuerstreit hätte die Schweiz idiotisch ­reagiert, die Minarettabstimmung bezeichneten Sie als schändlich, und jetzt prophezeien Sie, dass sie nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative auf den ­Knien zu Europa zurückrutschen werde.

Ja, gucken Sie mal, die Minarettgeschichte. Drei Minarette gab es. Drei! Sie konnten das in Europa gar nicht erklären. Oder wie lange hat sich die Schweiz gesträubt und das Bankgeheimnis verteidigt. Das war die Verteidigung des organisierten Weisswaschens von dreckigem Geld.

Die Grenzen Europas sind noch viel dichter als die der Schweiz – siehe Lampedusa.

Aber davon profitiert doch die Schweiz auch! Machen Sie es sich nicht so einfach! Dagegen kämpfen wir ja, wir Grünen, gegen dieses Bollwerk Europa. Und deswegen wollen wir es nicht auch noch im Inneren.

Gibt es etwas, das Sie an der Schweiz bewundern?

Ich habe über die direkte Demokratie viel Lobendes gesagt. Wenn die Schweiz über die Kernkraftwerke demokratisch abstimmt oder über Kampfflugzeuge, völlig in Ordnung. Wenn aber in mehreren Volksentscheiden das Frauenstimmrecht abgelehnt wird, halte ich das für dümmlich.

Frauenstimmrecht! Ist auch schon eine Weile her.

Historische Prozesse sind langsam. Die Französische Revolution und die Erklärung der Menschenrechte waren 1789. Frankreich hat danach 150 Jahre gebraucht, um das Wahlrecht für Frauen einzuführen.

Angesichts der kommenden Bedrohungen, müsse Europa zusammenhalten, haben Sie letzte Woche in Brüssel gesagt.

Angesichts der Globalisierung. Kein Nationalstaat ist in der Lage, sich gegenüber der Globalisierung zu wehren, weil die Märkte stärker sind. Wenn in 30 Jahren Brasilien, Indonesien, Mexiko, Indien, China, Russland und die USA an einem Tisch sitzen werden, um globale Entscheidungen zu treffen, wird keiner der europäischen Nationalstaaten allein mithalten können. Ein vereintes Europa schon.

Doch Sie selbst ­hören als Europaparlamentarier auf – letzte Woche haben Sie in ­Brüssel Abschieds­party gefeiert.

Und auch meinen 69. Geburtstag. Ich war 20 Jahre im Europaparlament. Das politische Personal muss sich erneuern. Vor drei Jahren hatte ich zudem an der Schilddrüse einen Knoten. Das war für mich ein Schock.

Die Krankheit ist überwunden?

Ja, die Schilddrüse konnte entfernt werden, aber mir wurde bewusst, dass ich auf meinen Körper hören muss. Die Arbeit als Europa­abgeordneter ist anstrengend. Man ist abends in Rom, am nächsten Morgen in Brüssel.

Was haben Sie nun vor?

Eine Brasilienreise; ich werde einen Dokumentarfilm über die Fussballweltmeisterschaft drehen.

Planen Sie auch kulturelle ­Projekte in der Schweiz? Hier hat man Sie als «Literaturclub»-Leiter noch in bester Erinnerung.

Ich habe es sehr gern gemacht – neun Jahre lang. Ich hatte da einen Trick. Ich gab nicht den Oberliteraturkritiker, sondern ich sagte: Ihr seid alle besser als ich. Das Problem der «Literaturclub»-Leiter ist, dass die immer beweisen wollen, dass sie die Besten sind. Das ist unangenehm.

Sie haben von Ihrem ­Mitstreiter Peter Hamm oft Schelte bekommen.

Ja, er sagte: «Du bist jetzt unter der literarischen Wahrnehmungsgrenze.» Ich mag mich an die Auseinandersetzung um Susanna Tamaros Buch «Geh, wohin dein Herz dich trägt» erinnern. Meine Sendungskollegen waren entsetzt, die fanden das kitschig. Ich habe aber Briefe von Zuschauerinnen erhalten: weiter so! Und: danke.

Sind Sie weiterhin ein Leser?

Ja, aber ich hoffe, dass es in Zukunft noch mehr sein wird. Meine Frau hat mir zum Geburtstag die Tagebücher der Gebrüder Goncourt geschenkt. Das ist gehobener Klatsch. Herrlich.

Sie mögen Klatsch?

Aber ja. Es ist wunderbar, etwas – in Anführungszeichen – Unsinniges zu lesen. Es sind zehntausend Seiten. Da kann man sich gegenseitig vorlesen. Einfach nur aus Spass.

 

 

 

About Ewa Hess

Swiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, Zürich

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