von Ewa Hess
Publiziert in der SonntagsZeitung am 13.11.2011
Es gibt eine Verbindung zwischen London und Mailand: eine Spur aus leuchtenden Unterhosen. Die Videokünstlerin Pipilotti Rist, hierzulande bestens bekannt, erobert gerade mit Lüstern aus leuchtender Unterwäsche, ihrem neusten Werk, den ihr noch widerstehenden Rest der Welt: England und Italien. Ihre grosse Retrospektive in der Hayward Gallery in London versetzt Kritik und Publikum in Glückszustände («Grossartige Sinnlichkeit», «Evangelistin des Glücks», schwärmt «The Guardian»).
In Mailand entert die 48-jährige Grabserin am Dienstag einen Kinopalast – das seit sechs Jahren leer stehende Cinema Manzoni. Die mondäne Via Monte Napoleone ist um die Ecke, viele elegante Kunstbegeisterte strömen zur Rist-Vernissage in die 50er-Jahre- Herrlichkeit des Edelkinos voller Säulen, Fresken, Ornamente.
Entgrenzend wogende Videowände mit schwebenden Blumen, Früchten, Zungen verwandeln die Säle und Treppenfluchten in eine Zufluchtsstätte moderner Höhlenbewohner. «Parasimpatico» heisst die Schau, in Anspielung auf das vegetative Nervensystem. Farben explodieren, Füsse gehen wie der Mond auf, über allem schwebt zart die Stimme der Künstlerin, die Chris Isaacs «Wicked Game» trällert.
Viermal habe sie dem Kurator von «Parasimpatico», Massimiliano Gioni, eine Absage erteilt, erzählt Pipilotti Rist an der Vernissage, denn die Retrospektive in London habe ihr viel abverlangt, sie brauchte eigentlich eine Pause. Kurator Gioni habe jedoch nicht lockergelassen.
Seit sechs Jahren ist der 38-jährige Massimiliano Gioni Kurator der weit über die Landesgrenzen ausstrahlenden Fondazione Nicola Trussardi. Ihre Existenz zeugt aufs Schönste von der kreativen Art der Norditaliener, sich mit den in Italien herrschenden Verhältnissen zu arrangieren. In Ermangelung eines Museums für zeitgenössische Kunst organisiert die von der Modemarke Trussardi gesponserte Kulturstiftung hochkarätige Kunstausstellungen an wechselnden Schauplätzen.
Als Bewunderer der Schweizer Kunst fand Gioni, dass die Zeit reif sei, Pipilotti und Mailand zusammenzubringen. Der glänzende Kunstkenner, der in seiner zweiten Funktion Co-Leiter des New Museum in New York ist, hat ja auch Big Apple und den Schweizer Urs Fischer vor einem Jahr erfolgreich zusammengebracht. Von Freiheit und Anarchie spreche Pipilotti Rists Kunst, schreibt nach der Vernissage die italienische Presse. Die Rücktrittsankündigung von Silvio Berlusconi füllt gleichzeitig die politischen Seiten der Blätter.
Am Dienstagabend steht die Künstlerin in rotem Karo-Anzug unerkannt unter ihrem Unterhosenlüster in der Lobby. Man meint, eine Fotografin am Werk zu sehen. In ihre Arbeit vertieft, fotografiert sie den Saal, die Menschen, die Stimmung. Dazwischen macht sie immer wieder Kontrollabstecher in einen Nebenraum, von wo aus ein Laptop die gewaltige Videomaschine der Ausstellung steuert.
Wäre nach Moma und Hayward nicht eine Retrospektive im Kunsthaus Zürich oder im Kunstmuseum Basel an der Reihe, Pipilotti Rist? Da leuchten die Augen der Ostschweizerin auf, und sie sagt stolz: «Kunstmuseum St. Gallen»! Da merkt man, wo die Heimat liegt. 2012 also – aber erst nach Mannheim.
Pipilotti Rist, «Parasimpatico», Cinema Manzoni, Via Manzoni 40, Mailand, bis 18. Dezember