Peter von Matts Fähigkeit, ohne Überheblichkeit klug zu schreiben, ist eine seltene Gabe. Ich treffe meinen Germanistik-Professor Jahrzehnte nach meiner mündlichen Prüfung (Thema: Friedrich Glauser) zu einem Mittagessen. Der Anlass: Peter von Matt hat den Schweizer Buchpreis für seinen Essay-Band «Das Kalb vor der Gotthardpost» bekommen. Auf die Frage, wo er mich treffen möchte, sagt er ohne zu zögern: Brasserie Federal.
Hier ist er: Seine S-Bahn kommt 11.32 Uhr im Hauptbahnhof Zürich an. Peter von Matt, 75, bekanntester Germanist der Schweiz und frisch gekürter Träger des Schweizer Buchpreises, betritt vier Minuten später die Brasserie Federal. «Hier hat Arnold Kübler jeweils frühmorgens seine vier «Öppi»-Romane geschrieben», sagt von Matt und schaut sich um, als ob er nach dem Geist des 1983 verstorbenen Schweizer Intellektuellen und «Du»-Gründers Ausschau hielte. «Soll ich den Kartoffelstock vorlesen?», fragt er unseren Fotografen, als der ihn bittet, die Menükarte in die Hand zu nehmen.
Mittags esse er meistens nur einen Salat, verrät von Matt, doch zur Feier des Tages bestellen wir Kalbsleberli mit Rösti, ganz so, als ob wir uns das titelgebende Tier seines preisgekrönten Buchs «Das Kalb vor der Gotthardpost» einverleiben wollten.Im Buch steht das Kalb stellvertretend für die ganze Schweiz. Wie vom Zürcher Maler Rudolf Koller im Bild «Die Gotthardpost» dargestellt, rennt es flüchtend dem Fortschritt in die Hufe. «Kalb und Huhn», überschrieb denn auch die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» die Meldung, dass der Schweizer Buchpreis an von Matt ging. Als Huhn wird in seinem Buch der Schweizer Föderalismus bezeichnet, der «goldene und faule Eier durcheinander legt».Über Tierbilder, sagt von Matt, könne man mit den Lesern intensiv kommunizieren, «jeder hat eine Kuh- oder Katzenerfahrung». Im Hause von Matt habe es früher, als Sohn und Tochter noch klein waren, ein Kaninchen gegeben. Das sei zwar ganz allein gewesen, was heute verboten wäre, doch es habe ihm nicht geschadet, denn es sei «steinalt» geworden.Die von Matts leben seit 35 Jahren in der Zürcher Vorortsgemeinde Dübendorf, wo «man nicht wohnt», wie von Matt die arrogante Haltung des Zürichbergs höflich in Worte fasst. Professor von Matts Augen allerdings leuchten auf über seinem Teller. «Mich fasziniert Dübendorf!» Das Ausrufezeichen wird akustisch deutlich. Die für schweizerische Verhältnisse ungewöhnliche Dynamik des Ortes sei eine «soziologische Testsituation». Von Matts Garten liege direkt an der Glatt, wo der Dübendorfer Spazierweg vorbeiführt. Gemeinsam mit seiner Frau, der Germanistin und Autorin Beatrice von Matt, kann er an einem Sonntagnachmittag die polyglotten Gesprächsfetzen der Vorbeispazierenden hören und so den Wandel erfahren.Wenn sie beide zu Hause sind, kochen von Matts abwechselnd. Gegessen werde bei ihnen, «was man in der Schweiz so isst». Einfache Gerichte, doch sie sollten auf bestmögliche Art zubereitet sein. Also ein perfekter Risotto, nicht Lachsmousse mit Olivenschaum.
Die Vermutung, dass die beiden Germanisten beim Verzehr des Risotto die neusten Romane durchhecheln, amüsiert von Matt. Über seine Buchpreis-Konkurrenten hat er aber nur Gutes zu sagen. Und attestiert insbesondere Sibylle Berg «frappierende stilistische Fähigkeiten».
Ihn selbst hat der strengste Kritiker der deutschsprachigen Literatur, der «Papst» Marcel Reich-Ranicki, einst den «bedeutendsten lebenden Schriftsteller der Schweiz» genannt. Von Matt will das nicht hören: «Ich hasse den Satz», sagt er, und man merkt, wie oft er damit schon konfrontiert wurde. Erstens stimme es nicht, erklärt er, und dann gebe es eine so eindeutige Skala doch gar nicht. Im Übrigen habe die Schweiz gerade jetzt eine sehr reiche Literaturwelt. Gar nicht so apolitisch, wie in den Feuilletons geklagt werde. Das Politische verschaffe sich heute nur auf eine andere Weise als früher Gehör. Nicht als ein Frontenkrieg, sondern in kleinen Dosen überall. Auch die Medien seien anders geworden, vielstimmiger. Die Art von «Aufsprengen», wie es Frisch und Dürrenmatt praktizierten, brauche es darum nicht mehr.
Er sei dennoch froh, dass dank seinem Buchpreis die Tradition der Essays und Sachtexte wieder in Erinnerung gerufen werde, in der Schweiz seien sie zu Unrecht unterbeachtet. Dabei machten diese gerade eine unserer Stärken aus, wenn man etwa an Kulturhistoriker wie Jacob Burckhardt zurückdenke.
«Eher taucht ein Walfisch im Leutschenbach auf, als dass einer dieser Obelisken unserer nationalen Kultur in einer ‹Tagesschau› Erwähnung fände», schreibt von Matt im Buch und meint die kritischen Editionen von Gottfried Keller, Ulrich Bräker, Charles-Ferdinand Ramuz, Conrad Ferdinand Meyer oder Robert Walser.
Durch die Nichtbeachtung dieser Leistungen entgehe dem Schweizer Fernsehen ein sehr attraktiver Stoff, sagt von Matt und schüttelt ein fertiges Sendekonzept aus dem Ärmel: Sätze, die sich in Bilder verwandeln, Gottfried Kellers Manuskripte, die in der Zentralbibliothek noch so liegen, wie er sie hinterlassen hat, visuelle Ausflüge in die Geschichte der schreibenden Schweiz … Man sieht den charismatischen Professor sofort als den einzigen möglichen Moderator einer solchen Sendung vor sich, doch er winkt lachend ab: Beim Fernsehen wird man immer geschminkt, peinlich.
Das Wort «Schrott» sei als Paukenschlag gedacht
Mit dem Fernsehen ist er sowieso streng. Achtzig Prozent des Samstagabendprogramms aller Kanäle zusammen sei Schrott, steht im Buch. Von Matt zeigt sein komplizenhaftes Lächeln, das Wort «Schrott» sei als Paukenschlag gedacht, ein kalkulierter Stilbruch. Man müsse beim Schreiben immer mal die Tonlage wechseln.
Wir sind beim Kaffee Crème angelangt. Ich will noch wissen, ob ihm das Schreiben so leicht falle, wie die Texte beim Lesen wirken. Natürlich nicht, da sei viel Arbeit dahinter. Nach der ersten Niederschrift der Gedanken fängt die Mühe erst an: Sätze kürzen, Formulierungen präzisieren, Akzente setzen. Dazwischen lese er immer wieder Texte zum Thema. Das sei überhaupt das schönste Lesen, wenn es mit der eigenen Arbeit zu tun hat, sich damit verbindet.
Ob er auch eigene Texte wieder lese? Ja, wenn er etwas zitieren will. Da staune er, wie viel man auch vom Eigenen schon vergessen habe. Und manchmal denke er sogar: «Das isch no cheibe guet.»