Identitätsklau nach Kleist

Amphitryon und sein Doppelgänger – Mit Hilfe von Kleist erzählt Karin Henkel am Zürcher Schauspielhaus vom Identitätskollaps im Zeitalter von Facebook und Co. Eine furiose Aufführung, die mich berührt hat, weil sie den Wahnsinn des Stücks ganz sec zeigt, ohne Pathos, ohne brutal oder auch nur lärmoyant zu werden.

Zürich, 28. September 2013. Diese verfluchten Identitäten schießen wie Pilze aus dem Boden. Oder der Wind bläst sie durch die Türe ins Haus. Sie bilden Grüppchen. Manchmal auch Schlägertrüppchen! Dann gucken sie wieder ganz possierlich, so mir nichts, dir nichts, über die Möbelkanten hinweg.
Da kann sich Sosias noch so oft vorsagen, dass er ein Mensch sei, einer, der von daher kommt und dorthin geht. Im Spiegelkabinett der wild wuchernden Identitäten kommt ihm der Sinn für alles Zielgerichtete abhanden. Und nicht nur ihm, dem treuen Diener. Auch seinem Herrn Amphitryon, gerade noch mit Siegerschritt nach Hause eilend, wird es blümerant. Das Ziel aller Ziele, die Liebeszuflucht am Herzen der Gattin, ist schon besetzt – von einem wie er.
Bodenlose Ratlosigkeit ist der Stoff, aus dem Heinrich von Kleists Molière-Bearbeitung aus dem Jahr 1807 eh schon gestrickt ist. Der melancholische Berliner macht aus der frivolen Verwechslungskomödie ein Drama der Identitätsverwirrung, als das sein „Amphitryon“ in die Theatergeschichte eingeht. Die Sachlage selbst überliefert die griechische Mythologie so: Jupiter, der Schürzenjäger, hat sein Auge auf Alkmene geworfen. Um die treue Ehefrau zu verführen, schlüpft er in die Gestalt des thebanischen Generals Amphitryon. In der Nacht bevor der Kriegsheld nach Hause kommt, liegt der Gott in den Armen der nichts ahnenden Schönen und betrügt den Heimkehrer um die süßesten Stunden.

Verdoppelt, verdreifach, vervielfacht

Was noch die gegenwärtige Schauspielhaus-Intendantin Barbara Frey in ihrer Basler Inszenierung von 2003 als eine Männerkumpelei und Götterboshaftigkeit darstellte, modernisiert Karin Henkel jetzt zu einem wahren Identitätskollaps. Vor der aufdringlichen Verdoppelung, Verdreifachung und Vervielfältigung ist in dieser furiosen Inszenierung niemand und nichts gefeit. Selbst der Text – er folgt Kleists Originalfassung sehr frei, doch erkennbar – scheint sich da und dort in einer Endlosschleife zu verfangen. Es ist immer ein kleiner Glücksfall, wenn der Dialog der Wiederholung entkommt und die Handlung weitergeht.
Auf einer wirkungsvoll simplen Bühne von Henrike Engel (die allerdings – wie könnte es anders sein? – sich zweistöckig verdoppeln kann) und mit Hilfe von insgesamt vier Kostüm-Uniformen (Klaus Bruns) entfesseln fünf Darsteller ein unübersichtliches Figurengemenge. Jeder kann da schnell in die Rolle des anderen schlüpfen, mal Sosias, mal seine Frau Charis sein, ungeachtet der Brüste oder Bärte. Stupend, wie es Henkel und ihrem kleinen Ensemble gelingt, Kleist als einen Visionär zu zeigen, der die Tragikomödie des Identitätsklaus erahnte – lange vor dem Aufkommen der gottgleichen Technologie, der strukturellen Voraussetzung dazu.

Schlamassel der sozialen Netzwerke

Ganz ohne Mätzchen und plumpe Metaphern bringt Henkel das ganze slapstickhafte Schlamassel der sozialen und anderen Netzwerke, in welchen wir heute zappeln, als Assoziationsraum mit auf die Bühne. Jede ihrer Figuren unternimmt, unseren Profilen und Avatars ähnlich, ebenso rührende wie vergebliche Anstrengungen, sich als ein „Ich“ zu etablieren. Gegen Schluss greift jene Schauspielerin, die oft Charis ist, zu einer radikalen Maßnahme, indem sie ihren wahren Namen nennt. Ihren wahren Namen? Oops, nein. Denn sie heißt Marie Rosa Tietjen – gibt aber unumwunden zu, Carolin Conrad zu sein, also ihre oft Sosias spielende Kollegin.
Sie spielen alle brillant. Und es ist eine enorme Leistung, denn mit all den Text- und Figurenverwerfungen ist es ein Mosaik aus Körpern und Worten, in welches sich die Einzelnen einfügen müssen – mal in dieser, mal in einer anderen Formation, synchron und dann wieder solo. Das wirkt dennoch keine Sekunde angestrengt, im Gegenteil, immer kindlich verspielt. Die wunderbaren Bühneneinfälle, Karin Henkels Markenzeichen – falls man bei dieser so wandelbaren Regisseurin überhaupt von einem sprechen kann – funktionieren ohne Fehl. Hüte fliegen, Mäntel flattern, und auch mit einem alten Fauteuil lässt sich allerhand anstellen.
Dass die einzelnen Schauspieler bei diesem Konzept dennoch so etwas wie einen glaubhaften Charakterkern entwickeln, grenzt schon fast an ein Wunder. Aber der hinreißende Michael Neuenschwander ist am Ende der bodenständige Kriegsheld, man erkennt in ihm Amphitryon, da kann er in andere Kleider schlüpfen und Etiketten tauschen, so viel er will. Fritz Fennes Jupiter sitzt ihm ebenso in den immer tanzbereiten langen Beinen wie in der eitlen Argumentation, die ihm immer wieder auf die Zunge kriecht. Tietjen und Conrad sind unermüdlich, die beiden Frauen sprechen, springen und wechseln Kostüme mit einem Tempo, das einem den Atem verschlägt – der Inszenierung so inbrünstig dienstbar, wie es Sosias und Charis dem Königspaar sind. Und mit Lena Schwarzs beherzt verzweifelnder Alkmene bekommt der Zürcher „Amphitryon“ auch jene tragische Tiefe, ohne die das kurze intensive Stück kein echter „Amphitryon“ wäre. Ach!

Amphitryon und sein Doppelgänger
nach Heinrich von Kleist
Regie: Karin Henkel, Bühne: Henrike Engel, Kostüme: Klaus Bruns, Musik: Tomek Kolczynski, Dramaturgie: Gwendolyne Melchinger.
Mit: Carolin Conrad, Fritz Fenne, Michael Neuenschwander, Lena Schwarz, Marie Rosa Tietjen.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch

Veröffentlicht am morgen des 29.9.2013 auf nachtkritik.de

About Ewa Hess

Swiss journalist, Editor Arts @Sonntagszeitung, Zürich

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